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Bulletin #4


Begriffsdefinitionen zum Terminus BACKSTAGE

Um bereits vor dem ersten Workshop zumindest den Titel gebenden Begriff BACKSTAGE zu präzisieren, wird im folgenden Goffmans Begriffbestimmung in ausführlicherer Form zur Diskussion gestellt:

Wie im Fragenkatalog angedeutet, versuchen wir diesen BACKSTAGE-Bereich nicht nur als idealisierten Rückzugsraum der Schausteller zu analysieren, als das verloren geglaubte Authentische, sondern auch als jenen Bereich, in dem Regie geführt wird, in dem technische und soziale Infrastrukturen zu Verfügung gestellt werden, in dem der Kapital-, Material- und Personalfluss gesteuert wird, und in dem gemäß der ihm jeweils eigenen Hierarchien in sehr unterschiedlicher Form an den Benefits der Modernisierung partizipiert werden kann.


Über Erving Goffmans Bühnenmetapher

Auch wenn Goffmans frühe Feldforschungen auf den Shetland-Inseln indirekt eine Verbindung zur kulturanthropologischen Tourismusforschung aufweisen, so hat sich Goffman mit dem Tourismus doch nicht explizit befasst. Gleichwohl legen seine Analysen der Begegnungen und Interaktionen im öffentlichen Raum die Übertragung auf Sozialräume, wie sie für den Tourismus typisch sind (Bahnhöfe, Flugplätze, Hotelhallen, Restaurants etc.), nahe.

Selbstdarstellung

Das bekannteste Buch Goffmans ist wohl „The Presentation of Self in Everyday Life“. Dort beschreibt Goffman mit Hilfe der Theateranalogie, wie Menschen ihr Selbst auf den Bühnen des Alltags darstellen. Dabei ist diese Selbstpräsentation keine einsame Vorstellung, sondern Ergebnis von Interaktionen und Aushandlungsprozessen. Der Selbstdarsteller ist auf die Mitwirkung von Mitspielern in einem Ensemble und auf die Komplizenschaft des Publikums angewiesen. Von daher ist das Selbst auch keine wesen- oder naturhafte Gegebenheit, sondern eine soziale Konstruktion, die immer auch verletzlich ist. Diese Verletzlichkeit tritt besonders deutlich zutage, wenn der Zuschauer der Selbstpräsentation sich Zugang zu den von Goffman so bezeichneten Hinterbühnen oder Hinterregionen (backstage) verschafft. Normaler-weise ist die Vorderbühne oder Vorderregion (frontstage) der Ort, auf dem Vorstellungen gegeben werden. Das Selbst – wie auch allgemeiner das Bild von einer Realität – wird auf der dem Zuschauer sichtbaren Bühne in Szene gesetzt. Die Hinterbühnen stellen hingegen Zonen der Vorbereitung und Probe dar oder sind auch Flucht- und Erholungszonen für das Ensemble. Der unerlaubte Blick hinter die Kulissen vermag den schönen Schein der Inszenierung zu erschüttern. Deshalb ist auch das Ensemble darauf bedacht, die delikate Grenze zwischen Vorder- und Hinterbühne zu kontrollieren, während das Publikum, zumindest seine neugierigeren Teile, ein notorisches Interesse daran hat, einen Blick hinter die Kulissen zu erhaschen.

Mittels dieser Bühnenmetapher beschreibt Goffman die teils beabsichtigten, teils unbeabsichtigten Strategien, mit Hilfe derer soziale Szenen, Situationen und Institutionen hergestellt werden. Dabei steht in diesen Inszenierungen der Glaube an ihre „Realität“ ebenso auf dem Spiel wie die Überzeugungskraft und Integrität des Selbst der Darsteller. Dafür, dass Goffmans Ansatz sich für eine Analyse der Welt des Tourismus anbietet, findet sich bei Goffman selbst ein Hinweis, wenn er ortsbestimmtes Verhalten beschreibt. Goffman macht auf die Grenze aufmerksam, die in Hotels zwischen der Küche und dem Restaurant verläuft. An dieser Grenze, für deren Markierung es verschiedene Vorrichtungen (Pendeltüren, Durchreichen, Paravents etc.) gibt, kann man beobachten, wie die Kellnerinnen und Kellner mit den zubereiteten Gerichten in Erscheinung treten und dabei einen Gesichtsausdruck >servieren<, den sie im Moment des Übergangs von der Hinter- zur Vorderbühne für das Publikum aufsetzen.

Weit davon entfernt, sich lediglich zur Beschreibung der räumlich-sozialen Organisation von Restaurants, Hotels und ähnlichen Dienstleistungsbetrieben zu eignen, ist das Verhältnis von Vorder- und Hinterbühne ein Problem, das die Welt des Tourismus geradezu durchzieht. Dass eine Erlebniswelt und die ihr entsprechenden Emotionen und Identitäten bis ins Detail inszeniert werden können und dass ihre Realisierung auf ein eingespieltes Team angewiesen ist, das eifersüchtig über die Grenzen zwischen Vorder- und Hinterbühne wacht, wird in Disney World und ähnli-chen Themen-, Vergnügungs- und Erlebnisparks deutlich. Aber auch für ganze Urlaubsländer gilt, dass große Anstrengungen unternommen werden, um die dem Touristen zugänglichen Vorderregionen auszuschmücken, während die Hinterregio-nen hinter Vorhängen versteckt werden. Die schöne Urlaubswelt lebt davon, dass das Geschehen auf der Vorderbühne in strahlendes Licht getaucht wird, während die Hinterbühne, auf der schweiß treibende Arbeit zum Gelingen der Vorstellung beiträgt, dem Touristen verborgen bleiben soll - dessen ungeachtet besteht für nicht wenige Touristen der Reiz des Reisens womöglich darin, sich über die Grenzen zwischen Vorder- und Hinterbühne hinwegzusetzen. Der erfahrene Tourist ist nicht mit dem Waren- und Dienstleistungsangebot zufrieden zu stellen, das in den Touristenshops und -lokalen arrangiert ist, sondern überschreitet auf der Suche nach der „authentischen“, vom Tourismus „unverdorbenen“ Welt die Grenzen zwischen Vorder-und Hinterbühne. Absichtlich oder unabsichtlich verletzt er dabei auch Scham- und Peinlichkeitsschwellen, wenn etwa durch den grenz überschreitenden Blick des Kameraauges die Hinterbühnen der Einheimischen erkundet werden, seien dies Körperregionen oder nichtöffentliche Zonen der Behausung.

Nach Goffman stellt das Selbst ein gleichsam sakrales Objekt dar, auf dessen Schutz die Träger dieses Selbst bedacht sind. Um das Selbst herum werden terri-toriale Schutzzonen aufgebaut, deren Ausdehnung je nach kulturellen und subkulturellen Kontexten variiert. Dies wird gerade bei Kontakten zwischen Touristen und Einheimischen deutlich, wo bezüglich des angemessenen Abstandes zwischen den Körpern Missverständnisse und Irritationen auftreten. Aber auch Touristen unter-einander zeigen Territorialverhalten, etwa bei der Sicherung eines vorteilhaften Platzes in einer Warteschlange oder bei der Reservierung eines Liegestuhls am Swimmingpool.

Rituale

Im Alltag wie in der Welt des Tourismus werden die Risiken begrenzt, die im eigen-mächtigen, unbefugten Überschreiten territorialer Grenzen liegen. Die Akteure bewegen sich in Ritualen, die mehr oder weniger starr und deutlich erkennbar sind. Im Vergleich zu vormodernen Gesellschaften mag heute der Bereich des Rituellen geschrumpft sein, vor allem wenn man unter Ritual jene ausgeprägten und obligatorischen Zeremonien versteht, die auf Sphären und Objekte übernatürlicher Art verweisen. Gleichwohl besteht auch das heutige Alltagsleben aus einer Vielzahl von Ritualen, und gleiches gilt für die touristische Welt. Die öffentliche Ordnung, das Verhalten an öffentlichen Plätzen wäre ohne die Sicherheit, welche die interpersonellen Rituale bieten, kaum denkbar. Bei diesen geht es um die Regulierung von sozialer Nähe und Distanz, die gegenseitige Anerkennung und Respekterweisung oder, allgemein, um die Regulierung des sozialen Austausches. Scheinbar triviale Interaktionen wie das Begrüßen, Verabschieden oder Bedanken wären allzu mühsam, könnten die Akteure nicht auf Rituale zurückgreifen.

Von welchen Zügen und Zeichen solche Rituale strukturiert sind, hat Goffman minuziös analysiert. Während die von Goffman beschriebenen Situationen zumeist innerhalb einer Kultur – der US-amerikanischen – angesiedelt sind, sind Interaktionen im internationalen Tourismus multikulturell: Die Verweisungssysteme, die Gesten und Zeichen, mit deren Hilfe kommuniziert wird, entstammen unter-schiedlichen Kulturen. Können Mitglieder einer Kultur davon ausgehen, dass die von ihnen gesetzten Gesten und Zeichen für sie dieselbe Bedeutung haben - wenn es auch hier genügend Missverständnisse geben mag -, so verweisen im internationalen Tourismus die Begegnungen zwischen Touristen und Einheimischen, Gästen und Gastgebern auf mehr als eine Kultur und bewegen sich immer am Rande des Missver-ständnisses. Begrüßungsriten, Formen der Höflichkeit und ähnliche Rituale, die im Alltag einer Kultur relativ sicher funktionieren mögen, können sich in einem anderen kulturellen Kontext als deplaziert herausstellen.

Wie man von Goffman lernen kann, erleichtern Rituale die Übergänge zwischen Situationen, Erfahrungswelten, Kulturen oder auch Lebensphasen. Rituale können Stress und Schock, die die Konfrontation mit dem Unbekannten und Fremden mit sich bringt, erträglich gestalten. Die touristische Erfahrungswelt ist reich an solchen Konfrontationen, was ihren Reiz ausmachen mag, für die Betroffenen aber auch mit Problemem verbunden sein kann. Versuchen nun die Akteure sich in solchen „kritischen“ Situationen der Rituale zu bedienen, die in ihrer Kultur normalerweise funktionieren, kann es sein, dass sie erst recht Schiffbruch erleiden.

Um Irritationen und „Kulturschocks“ vorzubeugen, haben die touristischen Organisationen längst eigene Rituale des Übergangs entwickelt. Der Einstieg in die Urlaubswelt wird dem Touristen durch Begrüßungs- und Empfangsrituale erleichtert, die zum Teil hochgradig standardisiert sind, auch und gerade wenn sie den Anschein von Spontaneität und Ungezwungenheit vermitteln sollen. Auch für den Ausstieg aus der Urlaubswelt und den Wiedereinstieg in den Alltag zu Hause halten beispielsweise die Flugreiseveranstalter einige rituelle Hilfsmittel bereit. Im Bordkino wird der Heimkehrer allmählich wieder an den Ernst des Lebens herangeführt - von der ausführlichen Berichterstattung über die Fußballbundesliga bis zu einem Resümee dessen, was sich in der Nichturlaubswelt sonst noch ereignet hat. Jenseits dieser Einstiegs- und Ausstiegsrituale, die je nach Urlaubsart mehr oder weniger extensiv und intensiv gestaltet werden, ist das soziale Leben weniger reguliert. Dabei variiert das Ausmaß, in welchem Rituale organisiert werden, je nach touristischer Zielgruppe, Urlaubsort und -form. Wie der heimgekehrte Tourist den Wiedereinstieg in den Alltag bewältigt, bleibt ihm allerdings weit gehend selbst überlassen. Dennoch ist kaum zu übersehen, dass auch der Übergang von der Urlaubs- in die Alltagswelt mit Hilfe von Ritualen gestaltet wird, zu denen Begrüßung und Abholung der Heimkehrer am Flugplatz oder Bahnhof durch die Daheim gebliebenen zählen, die dafür durch Rituale wie die Präsentation von Urlaubsdias und -videos belohnt oder bestraft werden. Diese Rituale bleiben aber weit gehend von den Organisationsbemühungen der Tourismusindustrie unberührt, die „Resozialisation“ der aus dem Urlaub Entlassenen ist Sache der Individuen, wenn auch die Branche ein Interesse daran hat, dass die Heimgekehrten urlaubsrückfällig werden.

Rahmen

Kann man den frühen Goffman so lesen, als sei der individuelle Akteur - wenn auch in Abstimmung mit seinen Mitspielern und dem Publikum - ein virtuoser Selbstdarsteller und als bestehe die soziale Wirklichkeit aus diesen Inszenierungen, so legt das Gesamtwerk Goffmans doch eine andere Interpretation nahe: Das soziale Leben ist in Rahmen eingebettet, die durch die Aktionen der einzelnen Individuen nur wenig verändert werden. Wie Goffman in seinem wohl bedeutsamsten Werk „Rahmen-Analyse“ darlegt, finden Handlungen und Erfahrungen in Situationen statt. Der Einzelne mag sich Klarheit darüber verschaffen, welcher Art die Situation ist, in der er sich gerade befindet, und er vermag diese innerhalb eines vorgegebenen Rahmens zu deuten. Die Definition der Situation seitens des Individuums steht in einer Beziehung zu den Organisationsprinzipien, welche die Ereignisse und die Erfahrungen beherrschen. Die Erfahrung, die der Einzelne in einer Situation hat, mag ihm höchst subjektiv erscheinen, doch unterliegt sie Konventionen und anderen Regelmäßigkei-ten, die relativ unabhängig vom einzelnen Ereignis und der individuellen Erfahrung existieren.

Für dieses Verhältnis von individueller Erfahrung einerseits und der Rah-mung oder Strukturierung der Situation andererseits liefert der Tourismus schöne Beispiele. Der Tourist, der nach einem langen Flug durch mehrere Zeitzonen sich in eine ihm fremde Situation versetzt sieht, stellt sich die von Goffman immer wieder aufgeworfene Kernfrage: what's going on here? In der Wahrnehmung der Situation schwankt der Tourist zwischen dem Gefühl, in die Situation voll einbezogen zu sein - unter Umständen sogar so weit, dass er fürchten muss, den Boden unter den Füßen zu verlieren -, und dem Bemühen, bekannt anmutende Anhaltspunkte zu finden, die ihm Orientierung bieten können. Die Gefühle des Touristen bewegen sich zwischen dem Eindruck von Einzigartigkeit und Subjektivität der momentanen Erfahrung einerseits und andererseits der Regelhaftigkeit, die die Situation unabhängig vom Erleben des einzelnen Touristen hat. Der Safari-Tourist, der zum ersten mal ein Nashorn vor sich auftauchen sieht, befindet sich in einer aufregenden Situation, die für den professionellen Safari-Begleiter alltägliche Routine ist. Die Bekundungen von Überraschung und Begeisterung seitens der Touristen sind so regelmäßig und berechenbar wie der Ausbruch eines Geysirs. Spontaneität und Einzigartigkeit des Erlebens sind eingebettet in vorgegebene Rahmen. Die Unterscheidungslinie zwischen Einmaligkeit und Regelmäßigkeit verläuft zumeist parallel zu der Grenze, die die Welt des Touristen von der des Touristikers trennt. Dabei liegt das Interessante darin, dass der Profi im Tourismusgewerbe von einem perfekt durchorganisierten Rahmen aus operiert, dessen Sinn und Zweck gerade darin liegt, dem Kunden ein besonderes, nach Möglichkeit einmaliges und unvergleichliches Erlebnis zu verschaffen, was natürlich um so schwieriger wird, je anspruchsvoller und erfahrener die Kunden sind und je mehr sie über Vergleichsmöglichkeiten verfügen. Strukturell sind daher auch die Prinzipien und Probleme der Eindruckserzeugung und Erfahrungsorganisation im Tourismus mit denen der Welt des Entertainment vergleichbar.

Die Betrachtung des Tourismus in einem theoretischen Bezugsrahmen, wie ihn die Soziologie Goffmans bereitstellt, wirft die Frage auf, inwieweit die touristischen Rituale und Sinnwelten von den Aktionen und Interaktionen der Akteure erzeugt werden und inwieweit sie von Strukturen oder Rahmen determiniert sind. Da gerade die Urlaubswelt oft und gern als Gegenwelt zur Alltagswelt vorgestellt wird, mag ein Tourismus, der weit gehend durch Rahmen bestimmt ist, als eine tückische Variante von Fremdbestimmung und Entfremdung erscheinen. Handeln und Erleben sind aber immer nur innerhalb von frameworks überhaupt möglich. Somit ist eine Gegenüberstellung von spontaner, nicht entfremdeter, authentischer Handlung einerseits und entfremdeter, inauthentischer Verhaltensregulierung und Erlebnismanipulation andererseits unsinnig. Diese Gegenüberstellung findet sich ähnlich in der Tourismuskritik, wenn zwischen wahren, authentischen Reisen einerseits und verdorbenen, entfremdeten, inauthentischen Erscheinungen des Massentourismus unterschieden wird.

Von Goffman kann man lernen, dass sich die soziale Erfahrung immer schon vorhandener Schablonen und Schemata bedient. Die Freiheit der Aktion und Interaktion besteht dann nicht jenseits dieser Strukturen, sondern darin, dass man ihren gemachten – fingierten und fiktionalen – Charakter zu erkennen vermag und mit ihm womöglich spielerisch umzugehen weiß. Diese, wenn auch begrenzte, Souveränität des Akteurs findet sich wieder in der Haltung des Touristen, der zwar nicht so naiv ist, die touristische Erfahrung für unbefleckt zu halten oder die Präsentation der touristischen Welt als authentisch anzunehmen, der darin aber auch keinen Sündenfall sieht, der ihm die Genüsse des Urlaubsparadieses vergellen würde.

Goffmans soziologische Interaktions- und Rahmenanalysen verdeutlichen, dass der Akteur alles andere als ein selbstherrliches Individuum ist, auch wenn es den Selbsttäuschungen einer Ideologie der Individualisierung unterliegen mag. Die soziologische Analyse des Verhaltens und des Selbst begnügt sich eben nicht mit den Selbstäußerungen und -erklärungen der Individuen. So sind denn auch die Reisemotive, die der Tourismusforscher durch Befragung meint ermitteln zu können, nur Oberflächenphänomene. Nicht weniger oberflächlich wäre eine soziologische Diagnose, die sich angesichts der bunten Vielfalt von Reisewünschen und -formen mit der Diagnose von Individualisierungstendenzen zufrieden gäbe.

Bei der Beschreibung und Kritik von Bereichen wie Konsum, Unterhaltung, Freizeit und Tourismus schlägt das Pendel von einem Extrem zum anderen. War die einschlägige Literatur der fünfziger bis siebziger Jahre von den Schlagwörtern „Massenkultur“ und „Vermassung“ erfüllt, so sieht man in der Kultur der achtziger und neunziger Jahre überall Individualisierung am Werke. Mit genauerer Kulturdiagnose hat das ebenso wenig zu tun wie mit den Theorien eines Erving Goffman oder auch eines Pierre Bourdieu.

Quelle. Heinz-Günter Vester, Tourismus im Lichte soziologischer Theorie, in: Voyage. Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung, Bd. 1: Warum Reisen? Köln 1997, 67-85.


MacCannells Erweiterung des Backstage-Bereiches in ein Fluidum von räumlichen Formationen

Ein weiterer Markstein in der Reise- und Tourismusforschung ist MacCannells soziologische Arbeit „The Tourist“. Seine Hauptthese (die er bereits zuvor entwickelte) lautet: Touristen sind moderne Pilger auf der Suche nach „authentischen Erfahrungen“. Moderne Menschen machen Erfahrungen der Entfremdung, sie haben ihren Sinn für das, was wahr und echt ist, verloren. Sie wollen der Oberflächlichkeit und der Bedeutungslosigkeit des modernen Lebens entfliehen. Daher sind Touristen nicht nur auf der Suche nach Vergnügungen, sondern sie haben ein legitimes Verlangen nach Authentizität. MacCannell zufolge sind die Touristen nicht, wie Boorstin behauptet, auf der Suche nach dem Inauthentischen, sondern sie werden oft durch solche touristischen Arrangements betrogen, die eine Authentizität „inszenieren“.

MacCannell analysiert die Anordnung des sozialen Raums in touristischen Arrangements, indem er Goffmans Konzept der „Vorderseite“ (oder –„bühne“ und der „Rückseite“ anwendet und zwischen „Fassade“ und „intimer Realität“ unterscheidet. Er nennt sechs Abstufungen, in denen touristische Arrangements stattfinden. Die ersten drei beziehen sich auf die Vorderseite: Stufe 1 gibt sich offen als Fassade zu erkennen, in Stufe 2 ist die Vorderseite offensichtlich präpariert und Stufe 3 ist eine perfekt simulierte Vorderseite. Die drei anderen beziehen sich auf die Rückseite: Stufe 4 ist die Rückseite mit beschränktem Zugang, Stufe 5 ist eine gesäuberte Rückseite, und Stufe 6 ist die echte Rückseite. Um Enttäuschungen zu vermeiden, ist es nun für die Touristen wichtig, dass sie sich darüber im klaren sind, auf welcher Stufe des touristischen Arrangements sie sich befinden. Besonders schwierig ist es, zwischen Stufe 3 und Stufe 4 zu unterscheiden. Mit diesen Abstufungen verschiebt MacCannell Boorstins Dichotomie „intellektueller Traveller vs. oberflächlichen Tourist“ hin zu den jeweiligen intellektuellen Fähigkeiten der Reisenden, touristische Arran-gements zu durchschauen, das heißt hinter die Fassaden zu sehen.

MacCannells Analyse zog eine Reihe von Fallstudien nach sich, die das Konzept der staged autenticity, der inszenierten Authentizität, zur Grundlage hatten. Sie sind vorwiegend damit befasst, authentische und inauthentische Elemente aus dem Untersuchungsgegenstand herauszufiltern. Ein Beispiel dafür ist van der Berghes Untersuchung über die widersprüchliche und paradoxe Situation, in der sich „ethnische Touristen“ in ihrer Suche nach „ursprünglichen Eingeborenen“ befinden.

Quelle. Oliver Häußler, Reisen in die Hyperrealität. Baudrillard und das Problem der Authentizität, in: Voyage. Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung, Bd. 1: Warum Reisen? Köln 1997, 99-109.


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